Biografien| Aktuelles

Weinsheimer, Liselotte, ver. Jokisch-Weinsheimer 13.4.1919 Wiesbaden - 22.12.1992 Bremen

Lilo war die Tochter des Pfarrers Heinrich Weinsheimers der reformierten Gemeinde Wuppertal Elberfeld und seiner Ehefrau Gertrud, geb. Schmidt. Sie wuchs in Elberfeld auf. Nach dem Abitur machte sie von 1940 bis 1944 eine Schauspielausbildung in Essen. Von 1947 bis 1949 war sie in den Ruhr-Kammerspielen in Witten engagiert.
1947 lernte sie Walter Jokisch kennen, den sie am 17.7.1950 heiratete. Ihr Mann bekam ein Engagement am Bremer Theater, und da sie schon früh ihre Leidenschaft für den Journalismus entdeckt hatte, entschied sie sich für eine selbstständige Karriere. Für den Weser-Kurier war sie Parlamentsberichterstatterin. Auch für die Bremer Nachrichten schrieb sie. Sie begleitete die Arbeit aller Nachkriegsregierungen kritisch. Für Radio Bremen schrieb sie Kommentare zur kulturpolitischen Themen. Ihr engagierter Journalismus fand auch Anklang in überregionalen Zeitungen wie der ZEIT und der Frankfurter Rundschau, die ihre kritischen Artikel zu zeitpolitischen Fragen druckten. Ein besonderes Anliegen war ihr die Auseinandersetzung mit der Nazi-Zeit.
1953 wurde sie zu einem Studienaufenthalt in die USA eingeladen. Nach ihrer Rückkehr nahm sie als Delegierte des Bremer Clubs berufstätiger Frauen, dessen Vizepräsidentin sie war, am Kongress berufstätiger Frauen in Bonn teil.
1960 trennte sich Walter Jokisch von ihr. Sie führte mit ihrer Schwiegermutter jedoch weiterhin eine rege Korrespondenz über Jahre hinweg, in der sie über alle Einzelheiten des beruflichen und privaten Lebens berichtete.
1967 schrieb sie über den sog. Judenmord-Prozess gegen den ehemaligen SS-Obersturmführer Fritz Hildebrand, Inspekteur und Kommandeur eines sog. Judenlagers in Lemberg, zu dem zahlreiche ehemalige Gefangene aus aller Welt nach Bremen kamen, um als Zeugen gegen ihn auszusagen. Sie traf diese Zeugen im Überseehotel: "Mit an diesem Tisch sind an diesem Abend Mosze Hendler aus Haifa, Leizer Melzer aus Ohio, Josef Hirsch aus New York und Alexander Hauers Ehefrau Ella. Dann kommt Frau Mestel dazu und alle fragen nach ihrem Mann, dem Israeli Josef Mestel, der nach seiner Aussage vor dem Schwurgericht zusammengebrochen war und nun schwerkrank in einer Bremer Klinik liegt. Als Frau Mestel hört, daß neben ihr am Tisch eine Journalistin sitzt, greift sie nach meiner Hand und sagt: "Bitte schreiben Sie hin, wir hatten furchtbare Angst vor dieser Reise, vor Deutschland. Aber im Gericht waren sie gut zu uns, Ärzte und Schwestern sind gut zu uns. Bitte schreiben Sie: vielen Dank von uns."1
Als am 3.1.1971 acht Journalisten den Bremer Presse-Club gründeten, war sie die einzige Frau. Auch dem Vorstand des Deutschen Journalisten-Verbandes Bremen gehörte sie zeitweilig an. In ihren Artkeln befasste sie sich auch häufig mit der beruflichen und familiären Situation von Frauen. Mit leicht ironischem Unterton kommentierte sie in der ZEIT 1971 den Versuch der Gründung einer Frauenpartei in Bremen: "Annedore Büttner, Jahrgang 1905, spähte vergeblich durch die Eisblumen am Fenster. Es kam niemand mehr. Man blieb unter sich: Die ‚Vertrauensfrau für Bremen der Ersten Frauen Partei Deutschland e.V. (EFPD)', drei Damen, ein junger Mann mit schwarzem Schlapphut, Journalisten. ‚Diese miserable Beteiligung', so folgerte Vertrauensfrau Büttner: ‚Ich habe den Auftrag des Bundesvorstandes, die EFPD in Bremen zu konstituieren, damit auch in Norddeutschland endlich etwas in Gang kommt', ist ein Beweis für die Verdummung des weiblichen Geschlechts. Fünfzig Persönlichkeiten wurden eingeladen, und in der Tagespresse stand es auch. ‚Ist es zu fassen?' Die Bundesvorsitzende der im Oktober 1970 in Mannheim gegründeten EFPD, Gisela Gawlik, Mitunterzeichnerin der Einladung, stecke, so mutmaßte Frau Annedore, irgendwo zwischen Mannheim und Bremen im Schnee. ‚Wir wollen dennoch beginnen.' Die Einladung ließ Außerordentliches erwarten. ‚Die EFPD ist nicht männerfeindlich, aber der alleinige Herrschaftsanspruch der Männer kann nicht mehr geduldet werden!' und: ‚Jeder Frau das Recht auf ihren Körper und noch vieles mehr' und: ‚Beseitigung der permanenten Verdummung der Frau.' Der einzige Mann im Mini-Frauen-Häuflein war hauseigen: die Versammlung fand in den Räumen des Republikanischen Clubs statt."2 Eine Gründung gelang allerdings nicht.
1971 hatte sie einen Wahlaufruf der SPD für die Wahl Hans Koschniks unterzeichnet, das hinderte sie jedoch nicht, sich mit der SPD auseinander zu setzen. 1988 setzte sie sich kritisch mit der Regierungspolitik der SPD in dem Artikel "Bremens Sozialdemokraten: Verbraucht und verschlissen"-Skandale markieren den Niedergang der Regierungspartei" auseinander:" Der schleichende Niedergang von Partei und Senat läßt sich nicht länger verbergen. In der vergangenen Woche wurde das muffige Schweigen im Rathaus und in der Parteizentrale mit lautem Knall beendet: Innensenator Bernd Meyer trat zurück, der Bremer SPD-Vorsitzende Herbert Brückner legte den Parteivorsitz nieder, und Hans Helmut Euler, Chef der Senatskanzlei, muß den Weg in den einstweiligen Ruhestand antreten," hieß es in ihrem Artikel, in dem sie sich auch mit Hans Koschniks Regierungsstil auseinandersetzte.
Anlässlich des EG-Gipfels 1978 in Bremen schrieb sie in der ZEIT: "Fietje,die Blumenfrau vom Bremer Liebfrauenkirchhof, ist sauer. Am 6. und 7.Juli darf sie nicht da stehen, wo sie seit Jahrzehnten immer steht - ganz nahe beim Rathaus; denn da steht am 6. und 7.Juli Polizei. "Das war nicht mal so, als die Königin von England neulich hier Besuch gemacht hat", schimpft Frau Fietje. Der Hinweis, sie habe die Ehre, in der Konferenzstadt eines Europa-Gipfels zu wohnen, entlockt, der resoluten Rosenfrau einen wütenden Ausbruch. Sie will sich beim Bürgermeister beschweren. Als sie hört, daß achthundert Journalisten in Bremen erwartet werden, bricht sie fast zusammen: ‚Das wäre ein Geschäft geworden - und ich darf hier nicht stehen!'3 Zu Wilhelm Kaisen, der über EG-Gipfel geäußert hatte "ein bißchen viel Tam-Tam um Europa", merkte sie an: "In seinem Siedlerhaus in Bremen - Borgfeld versteht der 91 Jahre alte ehemalige Bürgermeister Wilhelm Kaisen die Welt von 1978 nicht mehr ganz."4
In der 80er Jahren publizierte sie überwiegend zu Bremer politischen Ereignissen in überregionalen Zeitungen wie der Zeit und der Frankfurter Rundschau.
Sie starb 1992 nach langer, schwerer Krankheit. Anlässlich ihres Todes gedachten Nachbarn und Freunde ihr mit freundlichem Worten: "Als Freundin, Nachbarin und Journalistin war sie eine mutige Frau mit viel Humor. Immer wieder hat sie uns alle zum Hinterfragen unseres Denkens und Handelns angeregt. Die Gespräche mit ihr werden uns fehlen. Sie zitierten aus einem von ihr verfassten Artikel zum Volkstrauertag ihr Lebensmotto, das von erschreckender Aktualität ist: Da hat man verzweifelt, wie man noch nichts im Leben bisher erbeten hatte: Darum, wachzubleiben, fähig, das Furchtbare als Furchtbares zu erkennen, bewahrt davor, einzusehen und hinzunehmen, was sich an besinnungslosem Wahnsinn häuft und besinnungslos machen will."5

Anmerkungen:
1."Ich kann in diesem Land nicht atmen", Zeit Nr. 11 17.3.1967, S. 11 Zugriff 1.9.2015.
2.12.3.1971 http://www.zeit.de/1971/11/gegen-sex-hasch-und-mondfluege, Zugriff 1.9.2015.
3.Die Zeit, 7.1978, Extra ein Schmiertrupp, 1.9.2015
4.ebda
5.Weser-Kurier 5.1.1993
Bildquelle Weser-Kurier 5.1.1993 Publikationen:
Angst vor den Revoluzzer, Die Zeit , 5.9.1969
Verhandlung im Fall Holzer. In: Frankfurter Rundschau, 9. 11. 1972
Flecken auf der "Weißen Flotte", Die Zeit 12.9.1974
RECHT Elegant beschattet: in DER SPIEGEL 37/1977 05.09.1977
Der Anblick des Talars sollte beruhigen, Frankfurter Rundschau ,8.11.1976
Wer ist Pastor Bode, Die Zeit 12.11.1976
Jeder zweite hat so eine Leiche im Keller, Frankfurter Rundschau vom 13.12.1982
Benda vermag eine Niederlage des Staates nicht zu erkennen, Frankfurter Rundschau 25,4,1985
Lehrergewerkschaft vermisst verbindliche Personalplanung, Frankfurter Rundschau 13.12.1986
Schulbuch-Streit in Bremen. Frankfurter Rundschau, Nr. 55, 06.03.1985, S.4
Lehrlingsabgabe abgelehnt. Bremer SPD wagte Alleingang mit Landesgesetz nicht.
Frankfurter Rundschau, Nr. 63, 15.03.1985, S.4
Kritik von Juden, Nichtjuden, Politikern, Lehrern. Ein Buch über Israel und die Palästinenser erregt in Bremen die Gemüter, Frankfurter Rundschau, 11.03.1985
"Frauen fahren Kinderwagen." Gleichberechtigungsstelle liess Schulbücher untersuchen. Frankfurter Rundschau, Nr. 38, 14.02.1985, S. 18
Weil Abstimmung nicht Abstimmung war sondern Zufall, Frankfurter Rundschau 12.2.1991
Wenn ihr diesen Brief bekommt in: Erzählen ist Erinnern, Kassel 1999


Literatur und Quellen:
Nachlass Lilo Weinsheimer, StAB Bremen (STAB)7,202